Henrys Traum
Henry steht am Fenster. Er beobachtet die spielenden Kinder im Innenhof. Sie spielen schon seit Stunden Fußball. Wie gerne wäre er dabei! Manchmal, wenn er so da sitzt, dann stellt er sich vor, er wäre ein König. Er würde dafür sorgen, dass es auf der Welt mehr Gerechtigkeit gäbe. Allen Kindern sollte es gut gehen. In seiner Wunschvorstellung gingen die Eltern liebevoll mit ihren Kindern um. Und als König würde er ein Gesetz erlassen, dass es den Großen verbietet, Kinder zu beschimpfen oder zu schlagen. Sein Hofstab würde in alle Häuser gucken und nach dem Rechten sehen...
Harte Wirklichkeit
„HENRY!“ Jäh wird er aus seinen Gedanken gerissen. Seine Mutter schreit über den ganzen Flur. „HENRY! Komm sofort runter und hilf mir die Kiste hoch zu tragen.“ Er rennt in den Flur nach unten und schleppt die Kiste die Treppe rauf in ihre Wohnung in der zweiten Etage. Ja, ja. Die Flaschen. Das ist das einzige, was ihr wichtig ist. Etwas anderes hat er auch seit Tagen nicht mehr im Kühlschrank gesehen. Nichts zu essen, nur die Flaschen. Mit seiner Mutter ist heute Nachmittag nicht gut auskommen. Das merkt er sofort. Sie hatte sich bereits nach dem Frühstück das erste Bier aufgemacht. Da spurt er lieber, als sich eine einzufangen.
Seit seine Eltern in Scheidung leben, dreht sich die Welt für seine Mutter nur noch um den Alkohol. Oft fängt sie schon morgens an zu trinken und kommt dann manchmal stundenlang nicht vom Sofa hoch. Bei der kleinsten Kleinigkeit verpasst sie Henry eine Ohrfeige. Nur den 18-jährigen Bruder Markus lässt sie in Ruhe, aber der ist sowieso nur am Wochenende zu Hause.
Henry und seine Mutter bekommen Besuch
Eines Nachmittags an der Tür. Zwei Männer stehen im Flur und wollen seine Mutter sprechen. Henry ruft sie und er muss in sein Zimmer zurück. Als seine Mutter ihn holt, ist sie kreidebleich: „Wir müssen deine Koffer packen. Du sollst für ein paar Tage woanders übernachten.“ Sie ist mucksmäuschenstill und erst im Nachhinein weiß er: Jetzt hatte sie begriffen. Der Bogen war überspannt.
Henry kommt in ein Haus mit einem riesigen Hinterhof, auf dem alle Kinder Fußball spielen dürfen. Viele Kinder in diesem Heim haben Ähnliches erlebt wie er und schnell freundet er sich mit Sebastian an. Sie verstehen sich prima und können sich alles erzählen. Sein Bruder kommt ihn regelmäßig besuchen und dann unterhalten sie sich manchmal stundenlang zu dritt. Henry ist hin und her gerissen. Einerseits möchte er gerne zu seiner Mutter zurück, andererseits weiß er, dass sich erst etwas ändern muss. „Jedes Kind hat ein Recht, ohne Gewalt aufzuwachsen. So steht es im Gesetz. Die Eltern haben die Pflicht, sich um ihre Kinder zu kümmern. Dazu gehört auch ein genug zu essen und anständige Kleidung“, weiß Markus, der auch dem Jugendamt die Situation geschildert hatte. „Und Mama ist damit im Moment überfordert. Und da muss eben der Staat dafür Sorge tragen, dass es dir gut geht.“
Wiedersehen
Einige Wochen hat Henry seine Mutter schon nicht mehr gesehen. Er weiß aber von seinem Bruder, dass es ihr gut geht. Sie hat sich Hilfe geholt. Und dann ist es soweit. Henry darf wieder zu seiner Mutter nach Hause. Er ist wie aufgedreht. Freut sich und hat Angst zugleich. Als sich die beiden in den Arm nehmen, können sie ihre Tränen nicht mehr unterdrücken. Das ganze Gefühlswirrwarr der vergangenen Jahre kommt hoch. In der Nacht sitzen beide auf seinem Bett, essen Chips und reden und reden und reden.
Seitdem Henry wieder zu Hause ist, funktioniert fast alles viel besser: Seine Mutter geht wieder arbeiten, sie trinkt keinen Alkohol mehr und es gibt wieder etwas zu essen. Stundenlang sprechen sie miteinander und können auch wieder miteinander schmusen und lachen. Tausendmal hat sich seine Mutter für ihr Verhalten entschuldigt, für das sie bis heute keine Erklärung hat. „Nie wieder“, schwört sie, „will ich dich vermissen.“ Zu Sebastian hat Henry den Kontakt behalten. Ab und zu darf Basti, so wie Henry ihn nennt, sogar bei ihnen übernachten. Und dann schmieden die Zwei Zukunftspläne.
Artikel 6 des Grundgesetzes
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.
(5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.