Der Verkehr ist lahmgelegt
In der Klasse reden sie laut durcheinander. Alle sind sehr aufgeregt, denn heute ist kein normaler Schultag wie sonst. Eigentlich war der Besuch des Schulbauernhofs geplant und alle hatten sich darauf gefreut. Und dann das: Streik im öffentlichen Nahverkehr! Keine Busse, keine S-Bahnen. „Wie sollen wir jetzt zum Schulbauernhof kommen?“, fragt Ava die Klassenlehrerin Frau Martin. Ava ist Klassensprecherin und hat zusammen mit Mateo, ihrem Stellvertreter, den Ausflug mitorganisiert.
Frau Martin macht einen Vorschlag
„Ich verstehe ja, dass ihr enttäuscht seid“, antwortet Frau Martin, „aber zum Schulbauernhof kommen wir heute ohne S-Bahn nicht mehr.“ „Das ist gemein“, ruft Mateo dazwischen. „Nur weil die streiken, müssen wir jetzt in der Schule bleiben.“ Frau Martin bittet um Ruhe. „Warum streiken die denn?“, will Ava wissen. Und Mateo setzt nach: „Dürfen die das überhaupt? Wie sollen die Leute jetzt zur Arbeit kommen?“ Frau Martin blickt in die Runde. „Das sind viele Fragen.“ Sie überlegt kurz. „Ich mache euch einen Vorschlag. Heute gibt es keinen Unterricht, wir gehen stattdessen zum Bahnhof. Da haben sich einige der Streikenden für eine Kundgebung versammelt. Informiert euch vor Ort, warum die Menschen streiken.“ Die Schülerinnen und Schüler sprechen aufgeregt durcheinander. Die Idee scheint ihnen zu gefallen. Wie man Interviews führt, haben sie gerade erst in Deutsch gelernt. Zu Mateo sagt Frau Martin: „Zu deiner Frage vorhin: Versuch doch herauszufinden, ob streiken eigentlich erlaubt ist!“
Natascha und Mateo stellen Fragen
Auf dem Bahnhofsvorplatz ist ganz schön was los. Die Streikenden erkennt man sofort. Über ihren Jacken tragen sie leuchtend gelbe Westen mit der Aufschrift „Wir streiken!“ und viele halten eine Fahne hoch. Da steht auch das Wort „Streik“ drauf. Es ist laut, manche Streikende blasen in schrille Trillerpfeifen. Natascha und Mateo gehen direkt auf einen Teilnehmer zu, der seine Fahne schwenkt. „Dürfen wir Sie was fragen?“, ruft Ava. Der Mann senkt die Fahne und mustert die beiden, während Mateo Stift und Schreibblock aus dem Rucksack holt. „Seid ihr von der Presse?“, fragt er und grinst. Mit dem Notizblock sieht Mateo tatsächlich wie ein richtiger Reporter aus. „Wir möchten wissen, warum Sie streiken“, sagt Ava. „Wegen des Streiks muss nämlich unser Ausflug zum Schulbauernhof ausfallen“, ergänzt Mateo. „Das tut mir leid“, antwortete der Streikende, „aber wir haben wirklich gute Gründe zu streiken.“ Und dann erzählt er, dass er und viele seiner Kolleginnen und Kollegen für eine Lohnerhöhung streiken. Die Preise für Lebensmittel und Mieten seien in den letzten zwei Jahren deutlich gestiegen und da müsse es dann auch mehr Lohn geben. „Und im Übrigen ist Streiken ein Grundrecht!“, fügt er noch hinzu. Ava nickt. „Über Grundrechte haben wir in der Schule schon gesprochen.“ Sie schaut kurz in die Menge: „Haben sich die Streikenden abgesprochen, was sie fordern wollen? Überall steht 4,9 Prozent mehr Lohn! auf den Schildern“. Der Mann erklärt, dass sich in einigen Unternehmen die Arbeitnehmer in Gewerkschaften zusammenschließen. „Wir tun uns zusammen, weil viele zusammen mehr ausrichten können als einer allein.“ Die Sache mit den Gewerkschaften möchte Mateo genauer wissen. „Sind Gewerkschaften so was wie Vereine? Ich bin nämlich in einem Sportverein.“ Ava ergänzt: „Und ich in einem Schachverein, aber von Streik habe ich da noch nie was gehört“. Der Mann lacht: „Ja, Gewerkschaften sind so etwas wie Vereine. Gewerkschaften beschäftigen sich aber immer mit Fragen zu Arbeitsbedingungen und zur Wirtschaft.“ Mateo fragt nach: „Gewerkschaften haben also die Aufgabe, sich für die Angestellten in Unternehmen einzusetzen?“ Der Mann nickt. „Richtig, die Gewerkschaften verhandeln mit den Unternehmen. Wenn die sagen, sie können keine höheren Löhne zahlen und die Gewerkschaft anderer Meinung ist, kann es zum Streik kommen. So wie heute.“ Ava denkt kurz nach, vielleicht haben die Unternehmen ja gute Gründe, weshalb sie keine höheren Löhne zahlen können. Aber deshalb gibt es ja Verhandlungen und dann finden beide Parteien sicher einen Kompromiss.
Zurück in der Schule
Das Stimmengewirr im Klassenraum ist groß. Alle fanden den unerwarteten Ausflug zum Bahnhof klasse, und schon schnellen die ersten Finger nach oben. Auch Ava und Mateo können es kaum abwarten, die vielen Informationen in der Klasse zu präsentieren. „Mateo“, sagt die Lehrerin, „ich glaube, du hast dich als erster gemeldet.“ „Ich verstehe jetzt, warum die streiken“, platzt es aus ihm heraus. Er und Ava erzählen, was sie erfahren haben und auch die anderen berichten von ihren Interviews. Frau Martin freut sich, dass sie trotz Streik einen aufregenden Vormittag hatten. Kurz vor Schulschluss kommt Ava ein Gedanke: Ob ein Streik in der Schule nicht auch ein gutes Mittel wäre, um etwas zu erreichen? „Wenn sich die Leute in den Gewerkschaften zusammentun und für mehr Lohn streiken, dann könnten wir das auch in der Schule tun, um endlich unser Klettergerüst zu bekommen!“ Da bemerkt Jonas aus der Reihe hinter ihr: „Meine Mutter ist Vorsitzende im Förderverein der Schule. Ich glaube, die kümmern sich um so etwas.“ Frau Martin nickt: „So ist es. Gewerkschaften kümmern sich um Arbeitsbedingungen, um Lohnerhöhungen und ähnliches. Wegen des Klettergerüsts könntet ihr beim Förderverein anfragen!“ Ava findet die Idee gut und nimmt sich vor, am Nachmittag mit ihrer Freundin Natascha darüber zu sprechen, wie sie am besten die nächsten Schritte planen.
Artikel 9 des Grundgesetzes
(1) Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.
(2) Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind verboten.
(3) Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig. Maßnahmen nach den Artikeln 12a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden.